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24 May—
12 July 2013

Rockhounds
Weissfrauenkirche, Frankfurt am Main

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[Rockhounds] Innerhalb der Biologie setzt sich zunehmend die Erkenntnis durch, dass natürliche Systeme weniger auf festen Gesetzlichkeiten beruhen, als dass sie Phänomene einer kollektiven Erinnerung darstellen. Das, was eine Amsel zu einer Amsel macht oder einen Termitenhaufen zu einem Termitenhaufen, sind nicht einfach Molekülzusammenhänge, die sich in einer geschichtlosen Formel zusammenfassen lassen. Ihr innerer Bauplan entspringt vielmehr sedimentierten Gewohnheiten, kumulierten Wachstums- und Verhaltensbahnen, an denen unzählige Generationen von Organismen mitgeflochten haben. In der Amsel, die hier und heute durch die Dämmerung huscht, tritt uns die ganze Vergangenheit „Amsel“ entgegen, eine Vergangenheit, die als unabgeschlossene zugleich nach vorne hin offen ist, also Gegenwart. Denn das Individuum tritt nicht nur ein in diese innere Gravitation Gedächtnis, es konkretisiert sie zugleich, durch die Intimität seines Rufens, seine spezifische Färbung, seinen unverwechselbaren Abdruck im Schnee. Alle Lebewesen scheinen Erinnerungen zu haben, die nicht allein auf ihre individuelle Entwicklung zurückzuführen sind. Als Individuen sind sie zugleich Medien von „Fernwirkungen“, die sie über ihren Ort und ihre Zeit hinausheben und in das geheimnisvolle Gewebe der Geschichte eintreten lassen, das voller Geflüster, Berührung und Nachbildern ist, und in der nichts wirklich verloren geht. Mit dem britischen Biochemiker und Zellbiologen Rupert Sheldrake könnte man von morphischer Resonanz sprechen, einer Art „Rapport“ – also Übertragung – durch Raum und Zeit hindurch, immateriell und der Notwendigkeit einer Begegnung vis-à-vis enthoben. Auch wir selbst stehen möglicherweise in solchen Resonanzbeziehungen zueinander, das heißt in Beziehungen, in denen die Vergangenheit innerhalb eines sedimentierten Empfindungsfeldes oder -gewebes unmittelbar gegenwärtig wird. Das betrifft die Unwägbarkeiten, Widerfahrnisse und Gewohnheiten der eigenen Herkunft, aber es betrifft auch die unsichtbare Schrift der Vorfahren. Auch hier gibt es Vorzeichnungen, an die wir bewusst oder unbewusst anknüpfen, Habitualitäten, die selbst Erwartungshorizonte in die Zukunft spinnen, abgelagerte Enttäuschungen, offene Wunden, katalytische Explosionen. „Lebensläufe sind verknüpfte Tiere“, heißt es einmal bei Alexander Kluge, Lebewesen, die Bündnisse über ihre Zeit hinaus eingehen, und in denen Ereignisse ihre Konsequenz ziehen, die der Lebensspanne des jeweiligen Individuums vorgelagert sind. So kann aus einem winzigen Fragment, dem unwesentlichen Detail einer Spur der ganze Vorgang neu entstehen, als würde die einzelnen Lebensspur zurückkehren an den Ort, an dem sie sich einst entzündete. Über was für Zeiträume hinweg verlaufen die Wahlverwandtschaften und Korrespondenzen? Wie kommt es, dass man sich in einem anderen Menschen wiedererkennt, in seiner ganz bestimmten Art, sich zu bewegen, den Finger zwischen die Buchseiten zu legen, das Glas zu den Lippen zu führen? Als schimmerten die verschütteten Erinnerungen durch wie frühere Häute, wie ein unendliches Gespräch, wie ein Wispern durch unsere Sätze hindurch, als würden sie sich alle einbringen wollen, die Ungeborenen, die Lebenden und die Toten? W. G. Sebald, dessen Prosa voll ist von geheimnisvollen Schussfäden und Koinzidenzen, spricht von „Phantomen der Wiederholung“, und Georg Christoph Lichtenberg notiert: „Ich kann den Gedanken nicht los werden, daß ich gestorben war, ehe ich geboren wurde.“ Wir sind erfüllt vom Echo derer, die uns vorangingen: Wenn wir den Mund aufmachen reden immer zehntausend Tote mit. Rockhounds – das sind Amateurgeologen, die sich mit Hammer und Lupe, Ritzbesteck und Geigerzähler am scheinbar opaken Erdboden zu schaffen machen. Die die Gesteinsformationen, in die sich die Umschwünge, Katastrophen und Äquilibrien des Menschlichen abgelagert haben, freilegen, die Verückungen im Erdreich, die den Erosionsschutt durchforsten. Die (noch einmal Kluge) in die „Chronik der Gefühle“ vordringen, eine Chronik, die keineswegs analog verläuft zur Chronik der Ereignisse (also zur Chronik unserer Geschichtsbücher), sondern die Larven, Puppen, Sedimente von Dynamit, verworfene Wünsche und abgebrochene Handlungen in sich beherbergt, die jederzeit in den Heutigen ihr Nachspiel beginnen können. All diese Bilder – Häute, Schleier, Grubentücher oder Erinnerungsschichten – entsteigen somit einem Bereich, der eigentlich keinen zeitlichen oder räumlichen Abstand zu uns besitzt. Es ist nicht die Linearität der Zeit, die Eva Schwab ins Bild setzt, sondern ihre Simultaneität, die in jedem Individuum neu wiederaufersteht und sich zur Erscheinung bringt: conscience collective, Selbstähnlichkeiten, Flashback, Narbe und Ornament; das Beieinanderhocken, die Karusselle von Ohnmacht und Macht, Medusen des Aufstiegs, Schemata von Glück: Stromatolithen einer in sich kreisenden Zeit. Ist es wirklich notwendig anzunehmen, dass das Bewusstsein im Singular steht? Dass die Gesamtheit unserer persönlichen Erfahrungen und Erinnerungen von denen irgendeiner anderen Person durchaus verschieden, ja durch Zeit und Raum getrennt sein muss? Heraklit, dem man schon in der Antike den Beinamen „Der Dunkle“ gab, hat es vor über zweitausendfünfhundert Jahren so formuliert: „Und es ist immer ein und dasselbe, was in uns wohnt: Lebendes und Totes und Waches und Schlafendes und Junges und Altes. Denn dieses ist umschlagend jenes und jenes zurück und umschlagend dieses.“ Cathrin Nielsen, Mai 2013, c.nielsen@lektoratphilosophie.de