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17 May—
9 June 2014

Hippokamp
Oberfinanzdirektion, Frankfurt am Main



Wolf Singer, Direktor Emeritus am Max‐Planck‐Institut für Hirnforschung Einführungsrede zur Ausstellung “Hippokamp”, Oberfinanzdirektion Frankfurt am Main, 2014 Hippokamp Was hat es mit diesem Fabelwesen – vorne Pferd, hinten Fisch – auf sich und was verbindet es wiederum mit Eva Schwab´s Bildern? Eine Antwort liegt in der doppelten Bedeutung von Hippocampus: Er meint auch eine Struktur im Gehirn, deren Funktion eine Vielzahl von Bezügen zu Evas Werkgeschichte aufweist. Anatomen lieben blumige Namen, und weil besagte Struktur geschwungen ist wie ein Seepferdchen, wurde sie Hippocampus getauft. Gleich daneben liegt der Mandelkern, die Amygdala, die wir brauchen, um traurig, wütend und verletzt zu sein. Der Hippocampus hingegen hilft, sich in der Welt zurechtzufinden. Er dient der Orientierung in Raum und Zeit. Aber wir brauchen ihn auch, um ein biografisches Gedächtnis aufzubauen, um uns zu erinnern, was wann war. Ohne ihn wüssten wir nicht, dass wir Geschichte haben, wo unsere Wurzeln sind und was uns wann im Leben zugestoßen ist. Bekannten und Freunden würden wir je aufs Neue begegnen und uns ihnen vorstellen, als seien sie Fremde. Wir lebten im Hier und Jetzt, wir wüssten, dass wir sind, existierten jedoch als geschichtslose Wesen – und hätten deshalb auch kein Konzept von Zukunft. Auf jeden Fall wären wir befreit vom Ballast unserer Geschichte, von Erinnerungen an familiäre Verstrickungen, narzistischen Verletzungen und erlebten Demütigungen. Aber nun haben wir sogar zwei Hippocampi, in jeder Gehirnhälfte einen, und schätzen uns glücklich, wenn sie funktionieren und uns nicht nur sagen, wo wir sind, sondern auch, was war. Wie es ist, wenn es war hat Eva einmal getitelt und damit auf die kürzest mögliche Formulierung gebracht, was sie umtreibt und ihr künstlerisches Schaffen über viele Jahre hinweg geprägt hat: Die Fragen, wie sich Gegenwärtiges und biografische Erinnerungen zueinander verhalten, wieweit die Selbstwahrnehmung und der Blick auf die Welt von Herkunftsprägungen befreit werden können, ob dies überhaupt Bedingung ist für Identität und Beisichsein oder ob sich Geschichte und Gegenwart nicht doch so verweben lassen, dass ein Teppich entsteht, dem lebenslang immer neue Muster hinzugefügt werden können – bis er dann an die Nachgeborenen weitergereicht wird, die ihn ihrerseits nicht vollenden werden. Wenn Eva Fotografien übermalt, den scheinbar objektiven Zeugnissen der Vergangenheit ihren heutigen Blick aufprägt, dann vollzieht sie einen Prozess, den wir unbewusst jedes Mal durchlaufen, wenn wir erinnern. Bei jeder Erinnerung werden die Gedächtnisspuren des abgerufenen Inhalts labilisiert und müssen anschließend wieder neu eingeschrieben werden. Dies nimmt viele Stunden in Anspruch und erfolgt jetzt im Kontext des gegenwärtigen Erlebens. Die erinnerten Spuren werden in neue Zusammenhänge eingebettet und wieder abgelegt – bis zum nächsten Mal. Die Folge ist, dass wir unsere Biografien ständig umschreiben und an unseren gegenwärtigen Blick anpassen. Wir legen uns unsere Geschichte und damit unser Selbstbild zurecht. Genau das meint Eva, wenn sie mit ihren Wachsbildern sagt, wie es ist, wenn es war. Auch dass sie dabei Wachs als Malgrund wählt, ist wohl kein Zufall. Ist es doch das Material der verlorenen Form, das sich immer dann verflüchtigt, wenn etwas in Bronze gegossen und für ewige Zeiten festgeschrieben werden soll. In den letzten Jahren hat sich jedoch Wesentliches verändert. Die übermalten Vergangenheitsbilder sind seltener geworden. Die neuen Bilder entfalten sich ohne Vorlagen, sind befreit von Vorgaben, auch wenn die Motive das Vergangene nicht leugnen. Mir scheint, es ist Eva gelungen, die Vergangenheit, ihre Vergangenheit, in den übermalten Erinnerungsbildern mit der Gegenwart zu versöhnen, den Ballast abzuwerfen und jetzt den Geschichtsteppich in die Zukunft zu weben. Das Augenmerk gilt nicht mehr nur dem, was war, sondern dem Erwarteten, dem, was bevorsteht, den Spuren des Alterns, dem Verfall, den vom Leben gezeichneten Menschen. Der an der Studie der Bedingtheit eigener Geschichte geschärfte Blick wendet sich jetzt nach außen, sieht die Abgründe und Verwerfungen außerhalb der eigenen Geschichte. Die Serie der Hysterikerinnen und die Porträts der alten Frauen belegen eindrucksvoll diesen Sprung aus der eigenen Geschichte in die projizierte Zukunft der Anderen. Und nach diesem Ausflug in die Antithese der Rückwärtsschau kommt Eva zurück, dorthin, wo allein entstehen kann, was sie uns hier zeigt – an den Ort, wo sich Vergangenheit und Zukunft begegnen, wo das Eigentliche seinen Sitz hat, das nur ist, weil so vieles war. Eva ist in der Gegenwart und bei sich angekommen und was sie da sieht und zusammenfügt, gleicht visionären Wunderkammern. Aber es sind nicht die Sammelsurien-Wunderkammern, in denen Kuriosa aus anderen Kulturen asserviert werden – hier greifen Symbole, unsere allgegenwärtigen Symbole für das, was ist und war, ineinander und lassen ein Beziehungsgeflecht entstehen, das sich rationaler Beschreibung widersetzt, das erspürt werden muss. Unfassbare Gebilde, vergleichbar vielleicht den sich immer aufs Neue und unwiederholbar verwebenden Wellenmustern von Ozeanen. Wir begegnen den Mythen der Wiedergeburt, des schon einmal Gewesenseins – irgendwo tief im Inneren weiß das Unbewusste von diesem Erbe, das uns alle verbindet. Schöpfungsmythen sprechen von Urmüttern. Heute reden wir von kollektivem Bewusstsein oder morphogenetischen Feldern oder esoterischen Panpsychismen – gemeint sind damit unsere gemeinsamen Wurzeln. Die neuen Bilder werden immer komplexer, halten unserer ungeordneten Welt den Spiegel vor, assoziieren nur scheinbar Unverbundenes, fügen der vorgefundenen eine Welt hinzu, deren Wirklichkeit sich fotografischer Dokumentation entzieht. Jetzt stehen alte Mythen neben Metaphern für abstrakte wissenschaftliche Konzepte, unheimliche Kräfte und die Fortschrittseuphorie einer technologisierten Zivilisation. Verletzungen und Einsamkeit werden sichtbar. Evas „Lebensschrank“ Was auf den ersten Blick als ästhetisch geglückte Verzierung daherkommt – wie das halt bei Bauernschränken zu erwarten ist –, entpuppt sich beim genauen Hinschauen als eine solche Wunderkammer, diesmal eine wirkliche Kammer, in der Eva zusammengetragen hat, was unsere komplex gewordene Welt ausmacht, in der wir uns tastend und nicht selten verwirrt zu vergegenwärtigen suchen, woher wir kommen – und doch bleibt wohltuend offen, was uns erwartet. Deutlich wird, was uns prägt. Auf der Stirnseite verweisen Stil und Dargestelltes prominent auf christliche Ikonografie, wobei Römisch-Katholisches mit Orthodoxem eine panchristliche Verschmelzung eingeht, betont durch die russischen Matroschkas auf dem Sims. Die von Engeln bewachte, hier gar nicht so unberührte Madonna weckt Assoziationen an eine vielfach gebärende Urmutter, wie sie in personifizierten Schöpfungsmythen vorkommt. Diese Interpretation der Herkunft wird aber sofort gebrochen durch den höchst dekorativen Verweis auf Haeckels meisterhafte Zeichnungen, in denen er die Evolutionsgeschichte bildnerisch rekonstruiert – und in der naturgemäß kein Raum für Urmütter ist. Auf der anderen Zugangstür ein seltsames Hybridgeschöpf, ein vielgesichtiger Pantokrator mit sichtbaren Lungenflügeln, Schwingen und Vogelkrallen und irgendwo darin verborgen, was ein Mensch hätte werden können – auch solches hätte die Evolution hervorbringen können, wenn es sich nur irgendwie bewährt hätte in der vorgefundenen Welt. Die Schranktüren sind verschlossen, aber die bildnerischen Elemente verraten, wo wir die Schlüssel in sein Inneres suchen könnten, wo die Quellen des Weltwissens ihren Ursprung haben: In vorwissenschaftlichen Offenbarungsmythen, in empirischen Annäherungen an die Bestandteile der dinglichen Welt, wie sie von den Alchemisten versucht wurden – man betrachte die symbolischen Darstellungen auf dem Bodenfries – und schließlich in der rationalen, datengestützten Analyse unserer Bedingungen, wie sie seit der Aufklärung versucht wird – hier symbolisiert durch Zeichnungen aus der Feder Descartes‘. Dass hier Auszüge aus seiner Theorie der Wahrnehmung gewählt wurden, ist vermutlich kein Zufall – macht es doch deutlich, dass das Wahrgenommene nicht wiedergibt, was möglicherweise ‚ist‘, sondern lediglich die vom Wahrnehmenden rekonstruierte Sicht auf die Welt. Auf welche dieser Wissensquellen wir uns verlassen sollen, wird nicht verraten, weshalb es sein kann, dass uns der Zugang zu den Schlüsseln verwehrt bleibt. Die fein ziselierten Girlanden auf den Schmalseiten erinnerten mich zunächst an Pompeji, dann an Jugendstilkeramik und schließlich löste sich alles Bekannte auf und wich einer surrealistischen Darstellung dessen, was aus uns geworden ist, nachdem wir alles, was auf der Vorderseite an prägenden Vorgeschichten dargestellt wurde, in uns zu vereinen suchten. Und dann die große Überraschung: Der Schrank ist kein hermetisch verschlossenes Gehäuse, sein Innenleben liegt offen, zeigt sich unverstellt, aber nur dem, der sich auch für Rückseiten interessiert, für diejenige Seite, die Schränke gemeinhin der Wand zukehren. Was sich hier offenbart, ist völlig unerwartet: Eine makellos weiße, steril anmutende Skulptur, ins Unendliche vervielfältigt in einer verspiegelten Welt. Die Wirbelsäule eines archaischen Vertebraten, eine im Nirgendwo endende Himmelsleiter oder das Alphabet, das allem Lebendigen Pate steht. Ich kann nicht anders, als darin die steril verpackten Sequenzen genetischer Kodes zu sehen, eine Alpha-Helix, jenen Strang nackter, monoton aneinandergereihter Vier-Buchstaben-Wörter, die vorgeben, wie sich die Bausteine der Materie fügen müssen, um zu leben. Das große Geheimnis dieser inneren Wunderkammerwelt ist doch, wie sich aus diesen keimfreien Kaskaden gespeicherter Information all die leidenschaftlichen Mythen, die metaphysischen Glaubenswelten, die durchdachten Weltmodelle und schließlich die Weltenerfinder entfalten konnten – jene Menschen, die Metaphern für dieses Geheimnis ersinnen, in Wahrnehmbares umsetzen und so der vorgefundenen Wirklichkeit hinzufügen können. Metaphern wie diese Wunderkammer.